Was ist Mirtazapin?
Mirtazapin (Handelsname Remeron) ist ein Antidepressivum mit einem einzigartigen Wirkmechanismus. Es gehört zur Gruppe der NaSSA (Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva) und nimmt damit eine Sonderstellung unter den Antidepressiva ein.
Im Gegensatz zu SSRI wie Sertralin, die die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen, wirkt Mirtazapin über spezifische Rezeptoren. Dies führt zu einem ganz anderen Nebenwirkungsprofil: Mirtazapin verursacht keine sexuellen Funktionsstörungen und keine Übelkeit, macht dafür aber oft müde und führt zu Gewichtszunahme.
Mirtazapin ist besonders geeignet bei Depressionen mit Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, da es genau diese Symptome direkt verbessert. Es wird seit 1994 eingesetzt und gehört zu den am häufigsten verschriebenen Antidepressiva in Deutschland.
Besonderheiten von Mirtazapin
✅ Große Vorteile von Mirtazapin
- Keine sexuellen Funktionsstörungen: Im Gegensatz zu SSRI bleibt die Sexualität unbeeinflusst
- Keine Übelkeit: Mirtazapin blockiert die Rezeptoren, die Übelkeit auslösen
- Verbessert den Schlaf: Oft schon in der ersten Nacht deutlich spürbar
- Steigert den Appetit: Gut bei untergewichtigen depressiven Patienten
- Schneller Wirkungseintritt: Oft schon nach 1-2 Wochen erste Besserung
- Gut kombinierbar: Kann mit SSRI kombiniert werden ("California Rocket Fuel")
- Weniger Wechselwirkungen: Im Vergleich zu vielen anderen Antidepressiva
⚠️ Nachteile von Mirtazapin
- Gewichtszunahme: Sehr häufig, 5-10 kg sind normal, kann auch mehr sein
- Starke Müdigkeit: Vor allem zu Beginn der Behandlung
- Tagesmüdigkeit: Kann den Alltag beeinträchtigen
- Heißhunger: Besonders auf Süßes und Kohlenhydrate
- Paradoxe Dosierung: Bei niedriger Dosis (15 mg) oft müder als bei höherer Dosis
Anwendungsgebiete
Mirtazapin ist in Deutschland für folgende Erkrankung zugelassen:
Depression (Hauptindikation)
Mirtazapin ist zur Behandlung von Episoden einer Major Depression bei Erwachsenen zugelassen. Es eignet sich besonders für Patienten mit:
- Ausgeprägten Schlafstörungen: Die sedierende Wirkung hilft beim Einschlafen, oft schon in der ersten Nacht
- Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust: Mirtazapin steigert den Appetit und fördert Gewichtszunahme
- Depression mit Angst: Hat auch anxiolytische (angstlösende) Wirkung
- Melancholischer Depression: Schwere Form mit ausgeprägter Antriebslosigkeit
- SSRI-Unverträglichkeit: Wenn SSRI wegen Übelkeit oder sexuellen Nebenwirkungen nicht vertragen werden
Weitere Anwendungen (Off-Label)
Mirtazapin wird manchmal auch bei anderen Erkrankungen eingesetzt:
- Chronische Schlafstörungen: Auch ohne Depression, in niedriger Dosierung (7,5-15 mg)
- Generalisierte Angststörung: Hat anxiolytische Eigenschaften
- PTBS: Kann bei posttraumatischer Belastungsstörung helfen, besonders bei Schlafstörungen
- Appetitlosigkeit bei schweren Erkrankungen: Z.B. bei Krebs oder HIV
- Übelkeit bei Chemotherapie: Durch 5-HT3-Blockade
💡 Wann ist Mirtazapin besonders geeignet?
Mirtazapin ist die optimale Wahl bei Depression mit:
- Schweren Einschlaf- oder Durchschlafstörungen
- Deutlicher Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust
- Unverträglichkeit von SSRI (wegen Übelkeit oder sexuellen Nebenwirkungen)
- Gleichzeitiger Angst
- Untergewicht
Weniger geeignet bei:
- Normalgewicht oder Übergewicht (Gewichtszunahme problematisch)
- Berufstätigkeit mit hohen Anforderungen an Wachheit (Tagesmüdigkeit)
- Diabetes mellitus (Gewichtszunahme und Blutzuckererhöhung)
Wirkungsweise – Einzigartig unter Antidepressiva
Mirtazapin hat einen völlig anderen Wirkmechanismus als SSRI oder trizyklische Antidepressiva. Es wirkt NICHT durch Wiederaufnahmehemmung, sondern über Rezeptor-Blockaden:
Hauptwirkung: Erhöhung von Noradrenalin und Serotonin
Mirtazapin blockiert Alpha-2-Autorezeptoren im Gehirn. Diese Rezeptoren bremsen normalerweise die Ausschüttung von Noradrenalin und Serotonin. Durch die Blockade werden diese Bremsen gelöst und mehr Noradrenalin und Serotonin ausgeschüttet.
Spezifische Serotonin-Wirkung
Mirtazapin blockiert zusätzlich bestimmte Serotonin-Rezeptoren (5-HT2 und 5-HT3), während andere Serotonin-Rezeptoren (5-HT1) aktiviert werden. Dies erklärt, warum Mirtazapin KEINE Übelkeit und KEINE sexuellen Funktionsstörungen verursacht – diese Nebenwirkungen entstehen durch 5-HT2- und 5-HT3-Aktivierung.
Nebenwirkungen durch Histamin-Blockade
Mirtazapin blockiert stark Histamin-H1-Rezeptoren. Dies führt zu:
- Müdigkeit und Sedierung: Erwünschte Wirkung bei Schlafstörungen, aber auch Tagesmüdigkeit
- Gewichtszunahme: Gesteigerter Appetit und Heißhunger
Das Mirtazapin-Paradoxon: Bei niedriger Dosis müder
Eine Besonderheit von Mirtazapin: Bei 7,5-15 mg ist die Müdigkeit oft STÄRKER als bei 30-45 mg. Dies erscheint paradox, hat aber einen klaren Grund:
- Bei niedrigen Dosen (7,5-15 mg) dominiert die sedierende H1-Blockade
- Bei höheren Dosen (30-45 mg) wird auch mehr Noradrenalin freigesetzt, was wach macht
- Das Noradrenalin hebt die H1-Sedierung teilweise auf
Praktische Konsequenz: Wenn Sie unter Tagesmüdigkeit leiden, kann eine ERHÖHUNG der Dosis von 15 mg auf 30-45 mg die Müdigkeit paradoxerweise VERRINGERN!
Dosierung und Einnahme
Standarddosierung
| Situation | Anfangsdosis | Zieldosis | Maximaldosis |
|---|---|---|---|
| Depression (Standard) | 15-30 mg/Tag | 30 mg/Tag | 45 mg/Tag |
| Depression + starke Schlafprobleme | 15 mg abends | 15-30 mg/Tag | 45 mg/Tag |
| Tagesmüdigkeit ist Problem | 30 mg abends | 30-45 mg/Tag | 45 mg/Tag |
| Reine Schlafstörung (Off-Label) | 7,5-15 mg | 7,5-15 mg/Tag | 30 mg/Tag |
Einnahmeempfehlungen
- Zeitpunkt: Einmal täglich abends, 30-60 Minuten vor dem Schlafengehen
- Mit oder ohne Essen: Kann unabhängig von Mahlzeiten eingenommen werden
- Schmelztabletten: Auf der Zunge zergehen lassen, nicht kauen, kein Wasser nötig
- Normale Tabletten: Ganz mit Wasser schlucken
- Regelmäßigkeit: Möglichst zur gleichen Uhrzeit einnehmen
Dosissteigerung
Die Dosis kann in Schritten von 15 mg erhöht werden:
- Start mit 15 mg oder 30 mg
- Nach 1-2 Wochen auf 30 mg (wenn mit 15 mg begonnen)
- Bei unzureichender Wirkung oder starker Tagesmüdigkeit: Steigerung auf 45 mg
- Dosissteigerungen frühestens nach 1-2 Wochen
💡 Strategie bei Tagesmüdigkeit
Wenn Sie unter starker Tagesmüdigkeit leiden:
- Option 1: Dosis ERHÖHEN auf 30-45 mg (nutzt das Mirtazapin-Paradoxon)
- Option 2: Einnahme früher am Abend (z.B. 19-20 Uhr statt 22 Uhr)
- Option 3: Dosis VERRINGERN auf 7,5 mg (nur bei reiner Schlafstörung sinnvoll)
- Nicht sinnvoll: Einnahme morgens (macht tagsüber noch müder)
Besondere Patientengruppen
Ältere Patienten (über 65 Jahre): Mit niedrigeren Dosen beginnen (15 mg). Ältere Menschen sind empfindlicher für Sedierung und Sturzgefahr.
Leber- und Nierenerkrankungen: Bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion Dosis reduzieren oder Einnahmeintervall verlängern.
Kinder und Jugendliche: Nicht empfohlen, da keine ausreichenden Sicherheitsdaten vorliegen.
Wirkungseintritt
Verschiedene Wirkungen treten zu unterschiedlichen Zeiten ein
Mirtazapin hat mehrere Wirkkomponenten, die unterschiedlich schnell einsetzen:
- Erste Nacht: Sedierende Wirkung sofort spürbar, verbesserter Schlaf
- Erste Woche: Appetit steigt, eventuell erste leichte Stimmungsaufhellung
- 1-2 Wochen: Deutliche antidepressive Wirkung bei vielen Patienten
- 2-4 Wochen: Weitere Verbesserung von Stimmung und Antrieb
- 4-6 Wochen: Volle antidepressive Wirkung erreicht
✅ Was können Sie erwarten?
Bei erfolgreicher Behandlung mit Mirtazapin:
- Sofort (1. Nacht): Besserer Schlaf, leichteres Einschlafen
- Nach wenigen Tagen: Mehr Appetit, Sie essen wieder mit Genuss
- Nach 1-2 Wochen: Aufgehellte Stimmung, weniger Grübeln
- Nach 2-4 Wochen: Mehr Energie, mehr Interesse an Aktivitäten
- Nach 4-6 Wochen: Deutlich gebesserte Lebensqualität
Schneller als SSRI
Im Vergleich zu SSRI, die oft 2-4 Wochen bis zum Wirkungseintritt brauchen, zeigt Mirtazapin häufig schon nach 1-2 Wochen erste deutliche Erfolge. Dies ist ein wichtiger Vorteil für Patienten, die schnell Linderung benötigen.
Was tun, wenn es nicht wirkt?
Wenn nach 2-3 Wochen keine ausreichende Besserung eintritt:
- Dosissteigerung auf 45 mg erwägen
- Wenn nach 4-6 Wochen keine ausreichende Wirkung: Wechsel oder Kombination erwägen
- Kombination mit SSRI möglich ("California Rocket Fuel")
- Psychotherapie (Verhaltenstherapie) kann Wirkung deutlich verbessern
Nebenwirkungen
Mirtazapin hat ein sehr spezifisches Nebenwirkungsprofil, das sich deutlich von SSRI unterscheidet.
Sehr häufige Nebenwirkungen (mehr als 10%)
- Gewichtszunahme: Die häufigste Nebenwirkung! 70-80% der Patienten nehmen zu, durchschnittlich 5-10 kg, manchmal auch mehr
- Gesteigerter Appetit: Starkes Hungergefühl, besonders Heißhunger auf Süßes und Kohlenhydrate
- Müdigkeit und Schläfrigkeit: 50-70% der Patienten, vor allem in den ersten Wochen
- Mundtrockenheit: Weniger ausgeprägt als bei trizyklischen Antidepressiva
Häufige Nebenwirkungen (1-10%)
- Schwindel (vor allem beim Aufstehen)
- Kopfschmerzen
- Verstopfung
- Benommenheit
- Ödeme (Wassereinlagerungen) an Beinen oder Händen
- Leberwerterhöhungen (meist mild)
Gelegentliche Nebenwirkungen (0,1-1%)
- Unruhe oder Angst (paradox, aber möglich)
- Albträume oder lebhafte Träume
- Restless Legs Syndrom (unruhige Beine)
- Zittern (Tremor)
- Blutdruckabfall
- Herzrasen
Seltene aber ernste Nebenwirkungen
- Agranulozytose: Gefährlicher Mangel an weißen Blutkörperchen (sehr selten: ca. 0,01%, aber lebensbedrohlich!)
- Manische Episode: Bei bipolarer Störung
- Serotonin-Syndrom: Bei Kombination mit anderen serotoninergen Medikamenten
- Suizidgedanken: Besonders zu Beginn, bei jungen Erwachsenen
⚠️ Agranulozytose – selten aber gefährlich!
In sehr seltenen Fällen (ca. 1 von 10.000 Patienten) kann Mirtazapin eine Agranulozytose verursachen – einen gefährlichen Mangel an weißen Blutkörperchen.
Warnzeichen:
- Fieber, Halsschmerzen, Schleimhautentzündungen
- Grippeartige Symptome
- Starke Abgeschlagenheit
Bei diesen Symptomen sofort zum Arzt und Blutbild machen lassen! Meist tritt dies in den ersten Wochen der Behandlung auf.
Was Mirtazapin NICHT verursacht
Im Gegensatz zu SSRI verursacht Mirtazapin typischerweise NICHT:
- ❌ Sexuelle Funktionsstörungen: Libido, Erektion und Orgasmus bleiben normal
- ❌ Übelkeit: Mirtazapin blockiert die Rezeptoren, die Übelkeit auslösen
- ❌ Unruhe oder Nervosität: Wirkt eher beruhigend
- ❌ Schlafverschlechterung: Verbessert den Schlaf deutlich
Gewichtszunahme – Das Hauptproblem
Die Gewichtszunahme ist die häufigste und für viele Patienten belastendste Nebenwirkung von Mirtazapin.
Warum nehme ich so stark zu?
Mehrere Mechanismen führen zur Gewichtszunahme:
- Starke H1-Blockade: Führt zu gesteigertem Appetit und Hunger
- Heißhunger auf Kohlenhydrate: Besonders Süßigkeiten, Brot, Nudeln
- Verlangsamter Stoffwechsel: Der Grundumsatz sinkt
- Mehr Schlaf, weniger Aktivität: Durch Müdigkeit weniger Bewegung
- Bessere Stimmung → mehr Essen: Depression unterdrückt oft den Appetit
Wie viel Gewichtszunahme ist normal?
- 70-80% der Patienten nehmen zu
- Durchschnittliche Zunahme: 5-10 kg
- Manche Patienten nehmen 15 kg oder mehr zu
- Die Zunahme erfolgt meist in den ersten 6 Monaten
Was kann ich gegen die Gewichtszunahme tun?
Prävention von Anfang an:
- Bewusste, ausgewogene Ernährung bereits vor Beginn planen
- Regelmäßige Bewegung und Sport (auch bei Müdigkeit!)
- Gewicht wöchentlich kontrollieren
- Gesunde Snacks bereithalten (Gemüse, Obst statt Süßigkeiten)
- Viel Wasser trinken (Durst wird oft mit Hunger verwechselt)
Bei bereits eingetretener Gewichtszunahme:
- Ernährungsberatung in Anspruch nehmen
- Strukturierter Ernährungsplan
- Kalorienzählen (z.B. mit App)
- Erhöhung der körperlichen Aktivität
- Mit Arzt über Dosisreduktion oder Wechsel sprechen
💡 Wann ist Gewichtszunahme erwünscht?
Bei einigen Patienten ist die Gewichtszunahme therapeutisch erwünscht:
- Untergewicht durch Depression
- Magersucht in der Vorgeschichte
- Starke Appetitlosigkeit
- Gewichtsverlust durch schwere Erkrankung
In diesen Fällen ist Mirtazapin besonders gut geeignet!
Wechselwirkungen
Mirtazapin hat im Vergleich zu vielen anderen Antidepressiva relativ wenige Wechselwirkungen, da es nicht über CYP2D6 verstoffwechselt wird.
Wichtige Wechselwirkungen
MAO-Hemmer: Die Kombination mit MAO-Hemmern (z.B. Tranylcypromin) sollte vermieden werden. Nach Absetzen eines MAO-Hemmers sollten mindestens 14 Tage vergehen. Risiko: Serotonin-Syndrom.
Andere serotoninerge Medikamente: Vorsicht bei Kombination mit:
- SSRI oder SNRI (Risiko für Serotonin-Syndrom erhöht)
- Triptane (Migränemittel)
- Tramadol (Schmerzmittel)
- Johanniskraut
- Tryptophan
ZNS-dämpfende Medikamente: Die sedierende Wirkung kann verstärkt werden bei:
- Benzodiazepinen (z.B. Tavor, Valium)
- Opioiden (starke Schmerzmittel)
- Antihistaminika (Allergiemittel)
- Anderen sedierenden Antidepressiva
- Neuroleptika
Medikamente, die Agranulozytose verursachen können: Vorsicht bei Kombination mit Medikamenten, die ebenfalls das Knochenmark beeinträchtigen (z.B. Carbamazepin, einige Antibiotika).
Alkohol
Alkohol sollte während der Behandlung mit Mirtazapin vermieden oder nur in sehr geringen Mengen konsumiert werden:
- Verstärkt die sedierende Wirkung erheblich
- Erhöht das Risiko für gefährliche Nebenwirkungen
- Verschlechtert depressive Symptome
- Kann zu gefährlicher Bewusstseinseintrübung führen
Vorteil: Weniger Wechselwirkungen als andere Antidepressiva
Da Mirtazapin nicht über CYP2D6 verstoffwechselt wird (im Gegensatz zu vielen SSRI und trizyklischen Antidepressiva), hat es weniger Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Dies ist ein Vorteil bei Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen müssen.
Gegenanzeigen
Mirtazapin darf NICHT eingenommen werden bei:
- Überempfindlichkeit gegen Mirtazapin oder einen der Hilfsstoffe
- Gleichzeitiger Einnahme von MAO-Hemmern (14 Tage Abstand erforderlich)
Vorsicht ist geboten bei:
- Epilepsie oder Krampfanfällen (kann Krampfschwelle senken)
- Bipolarer Störung (kann Manie auslösen)
- Schizophrenie (kann Psychose verschlechtern)
- Lebererkrankungen (Dosis anpassen)
- Niereninsuffizienz (Dosis anpassen)
- Herzerkrankungen (Blutdruckabfall möglich)
- Diabetes mellitus (Gewichtszunahme und Blutzuckeranstieg)
- Engwinkelglaukom (grüner Star)
- Prostatavergrößerung mit Harnverhalt
- Älteren Patienten (Sturzgefahr durch Sedierung)
Schwangerschaft und Stillzeit
Schwangerschaft
Die Datenlage zur Anwendung von Mirtazapin in der Schwangerschaft ist begrenzt:
- Mirtazapin sollte in der Schwangerschaft möglichst vermieden werden
- Große Studien haben kein erhöhtes Risiko für schwere Fehlbildungen gezeigt
- Bei Einnahme im dritten Trimester können beim Neugeborenen Anpassungsstörungen auftreten
- Eine unbehandelte schwere Depression kann ebenfalls Risiken bergen
Wenn eine medikamentöse Behandlung in der Schwangerschaft notwendig ist, sollten besser erprobte Alternativen wie Sertralin erwogen werden, zu denen mehr Erfahrungen vorliegen.
Stillzeit
Mirtazapin geht in die Muttermilch über. Die Konzentration in der Muttermilch ist relativ niedrig, aber die Sicherheit für den Säugling ist nicht ausreichend belegt. Während der Behandlung mit Mirtazapin sollte daher abgestillt werden oder auf ein Medikament mit besserer Datenlage für die Stillzeit gewechselt werden.
Absetzerscheinungen und Ausschleichen
Absetzerscheinungen möglich
Obwohl Mirtazapin nicht abhängig macht, kann es beim zu schnellen Absetzen zu Absetzerscheinungen kommen. Diese sind meist milder als bei SSRI, aber dennoch unangenehm.
Typische Absetzerscheinungen
- Schwindel und Gleichgewichtsstörungen
- Übelkeit (paradox, da Mirtazapin normalerweise Übelkeit verhindert)
- Kopfschmerzen
- Unruhe und Angst
- Reizbarkeit
- Schlafstörungen
- Grippe-ähnliche Symptome
⚠️ Niemals abrupt absetzen!
Setzen Sie Mirtazapin niemals plötzlich ab, auch wenn Sie sich besser fühlen! Ein abruptes Absetzen kann zu Absetzerscheinungen und einem Rückfall führen.
Besprechen Sie jede Änderung der Medikation immer zuerst mit Ihrem Arzt!
Richtiges Ausschleichen
Mirtazapin sollte langsam ausgeschlichen werden:
- Bei 45 mg: Reduzierung auf 30 mg → 15 mg → 7,5 mg → 0 mg
- Bei 30 mg: Reduzierung auf 15 mg → 7,5 mg → 0 mg
- Bei 15 mg: Reduzierung auf 7,5 mg → 0 mg oder jeden zweiten Tag → absetzen
- Zeitintervalle: Jede Reduktion nach 1-2 Wochen
- Dauer: Das gesamte Ausschleichen dauert 4-8 Wochen
- Bei Beschwerden: Reduktion verlangsamen oder pausieren
Wann kann Mirtazapin abgesetzt werden?
- Erste depressive Episode: Mindestens 6-12 Monate nach vollständiger Besserung
- Wiederholte Depressionen: 1-2 Jahre oder länger
- Chronische Depression: Oft Langzeittherapie empfohlen
Besondere Hinweise
Fahrtüchtigkeit und Bedienen von Maschinen
Mirtazapin beeinträchtigt die Fahrtüchtigkeit, vor allem zu Beginn der Behandlung. Die Müdigkeit, Schläfrigkeit und Benommenheit können gefährlich sein. Fahren Sie kein Auto und bedienen Sie keine Maschinen, bis Sie genau wissen, wie Sie auf das Medikament reagieren. Viele Patienten können auch nach Wochen noch nicht sicher Auto fahren.
Suizidgedanken
Zu Beginn der Behandlung mit Antidepressiva kann es bei einigen Patienten zu einer Zunahme von Suizidgedanken kommen, besonders bei jungen Erwachsenen unter 25 Jahren.
⚠️ Bei Suizidgedanken sofort Hilfe holen
Wenn Sie Suizidgedanken entwickeln oder sich diese verstärken, informieren Sie sofort Ihren Arzt oder suchen Sie eine Notaufnahme auf. In akuten Krisen:
- Notruf: 112
- Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (24h, kostenlos)
Manische Episoden bei bipolarer Störung
Mirtazapin kann bei Patienten mit bipolarer Störung eine manische Episode auslösen. Wenn Sie in der Vergangenheit manische Phasen hatten, sollte Mirtazapin nur mit einem Stimmungsstabilisierer kombiniert werden.
Ältere Patienten
Bei älteren Menschen (über 65 Jahre) ist besondere Vorsicht geboten:
- Erhöhtes Sturzrisiko durch Sedierung und Schwindel
- Stärkere Gewichtszunahme oft problematisch
- Mehr Wechselwirkungen bei Multimedikation
- Verstärkte Wassereinlagerungen (Ödeme)
- Mit niedrigeren Dosen beginnen (15 mg)
Kombination: "California Rocket Fuel"
Eine bekannte und wirksame Strategie bei therapieresistenter Depression ist die Kombination von Mirtazapin mit einem SSRI oder SNRI. Diese Kombination wird umgangssprachlich "California Rocket Fuel" genannt.
Warum ist diese Kombination so wirksam?
- Mirtazapin und SSRI wirken über unterschiedliche Mechanismen
- Additive antidepressive Wirkung
- Nebenwirkungen gleichen sich teilweise aus:
- Mirtazapin verhindert SSRI-Übelkeit
- SSRI mildern Gewichtszunahme und Müdigkeit
Typische Kombinationen
- Mirtazapin + Venlafaxin (am häufigsten)
- Mirtazapin + Sertralin
- Mirtazapin + Fluoxetin
- Mirtazapin + Duloxetin
Wichtig: Diese Kombination sollte nur unter ärztlicher Aufsicht erfolgen! Risiko für Serotonin-Syndrom ist erhöht.
Vergleich mit anderen Antidepressiva
Mirtazapin vs. SSRI (z.B. Sertralin)
| Eigenschaft | Mirtazapin | SSRI |
|---|---|---|
| Sexuelle Nebenwirkungen | Keine | Sehr häufig (40-80%) |
| Übelkeit | Keine | Häufig (20-40%) |
| Gewichtszunahme | Sehr häufig (70-80%) | Möglich (20-30%) |
| Schlafwirkung | Sehr gut | Variable/Verschlechterung |
| Tagesmüdigkeit | Häufig | Selten |
| Wirkungseintritt | 1-2 Wochen | 2-4 Wochen |
| Absetzerscheinungen | Mild bis moderat | Häufig moderat bis stark |
Fazit: Mirtazapin ist besser bei Schlafstörungen und hat keine sexuellen Nebenwirkungen, führt aber häufiger zu Gewichtszunahme und Müdigkeit.
Mirtazapin vs. Trizyklische Antidepressiva
- Verträglichkeit: Mirtazapin deutlich besser verträglich als Amitriptylin oder Clomipramin
- Anticholinerge Nebenwirkungen: Bei Mirtazapin viel weniger (weniger Mundtrockenheit, Verstopfung, Harnverhalt)
- Herzwirkung: Mirtazapin sicherer für das Herz
- Überdosierung: Mirtazapin viel sicherer
- Gewichtszunahme: Bei beiden möglich
Mirtazapin vs. Agomelatin
- Schlafwirkung: Beide verbessern den Schlaf, Mirtazapin stärker
- Gewicht: Agomelatin neutral, Mirtazapin Zunahme
- Tagesmüdigkeit: Mirtazapin häufig, Agomelatin selten
- Leberwerte: Agomelatin erfordert Kontrollen, Mirtazapin nicht
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Macht Mirtazapin abhängig?
Nein, Mirtazapin macht nicht körperlich abhängig und hat kein Suchtpotenzial. Allerdings kann es beim abrupten Absetzen zu Absetzerscheinungen kommen. Dies ist keine Abhängigkeit, sondern eine Anpassungsreaktion des Körpers. Ein langsames Ausschleichen verhindert diese Probleme.
Warum bin ich so müde trotz Mirtazapin?
Mirtazapin blockiert stark Histamin-H1-Rezeptoren, was zu Müdigkeit führt. Paradoxerweise kann eine ERHÖHUNG der Dosis von 15 mg auf 30-45 mg die Tagesmüdigkeit verringern, da bei höheren Dosen auch mehr wach machendes Noradrenalin freigesetzt wird.
Nehme ich definitiv zu von Mirtazapin?
Nicht alle, aber 70-80% der Patienten nehmen zu. Die durchschnittliche Gewichtszunahme beträgt 5-10 kg, kann aber auch mehr sein. Wichtig ist, von Anfang an bewusst zu essen und sich regelmäßig zu bewegen.
Kann ich mit Mirtazapin Auto fahren?
Zu Beginn der Behandlung beeinträchtigt Mirtazapin die Fahrtüchtigkeit erheblich durch Müdigkeit und Benommenheit. Fahren Sie erst wieder Auto, wenn Sie wissen, wie Sie reagieren. Viele Patienten haben auch nach Wochen noch Einschränkungen.
Wann sollte ich Mirtazapin einnehmen?
Einmal täglich abends, 30-60 Minuten vor dem Schlafengehen. Die sedierende Wirkung hilft beim Einschlafen. Morgens einzunehmen ist nicht sinnvoll, da dies zu starker Tagesmüdigkeit führt.
Was ist, wenn ich eine Dosis vergessen habe?
Wenn Sie die abendliche Einnahme vergessen haben: Nehmen Sie die Dosis nicht mehr spät nachts, sondern warten Sie bis zur nächsten regulären Einnahme am Abend. Nehmen Sie niemals die doppelte Menge.
Hilft Mirtazapin auch bei Angst?
Ja, Mirtazapin hat auch anxiolytische (angstlösende) Eigenschaften und wird manchmal bei Angststörungen eingesetzt, auch wenn dies nicht die Hauptindikation ist. Besonders gut wirkt es bei Depression mit Angst.
Kann ich Mirtazapin mit SSRI kombinieren?
Ja, die Kombination ("California Rocket Fuel") ist bei therapieresistenter Depression sehr wirksam. Sie sollte aber nur unter ärztlicher Aufsicht erfolgen, da das Risiko für ein Serotonin-Syndrom erhöht ist.
Warum ist 15 mg müder als 30 mg?
Das ist das Mirtazapin-Paradoxon: Bei 15 mg dominiert die sedierende Histamin-Blockade. Bei 30-45 mg wird zusätzlich mehr Noradrenalin freigesetzt, das wach macht und die Sedierung teilweise aufhebt. Wenn Sie sehr müde sind, kann eine Dosiserhöhung paradoxerweise helfen!
Zusammenfassung
✅ Die wichtigsten Punkte zu Mirtazapin
- Mirtazapin ist ein NaSSA-Antidepressivum mit einzigartigem Wirkmechanismus
- Besonders geeignet bei Depression MIT Schlafstörungen und Appetitlosigkeit
- Große Vorteile: Keine sexuellen Nebenwirkungen, keine Übelkeit, verbessert Schlaf
- Hauptnachteil: Gewichtszunahme sehr häufig (70-80%, durchschnittlich 5-10 kg)
- Paradoxon: Bei 15 mg oft müder als bei 30-45 mg
- Schneller Wirkungseintritt (1-2 Wochen) im Vergleich zu SSRI
- Dosierung: 15-45 mg täglich, abends vor dem Schlafengehen
- Gut kombinierbar mit SSRI bei Therapieresistenz
- Langsames Ausschleichen wichtig
- Regelmäßige ärztliche Kontrollen empfohlen
💡 Für wen ist Mirtazapin besonders geeignet?
Besonders geeignet für:
- Depression mit ausgeprägten Schlafstörungen
- Depression mit Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust
- Untergewichtige depressive Patienten
- Unverträglichkeit von SSRI (Übelkeit, sexuelle Nebenwirkungen)
- Depression mit Angst
- Ältere Patienten mit Schlafproblemen
Weniger geeignet für:
- Normalgewichtige oder übergewichtige Patienten (Gewichtszunahme problematisch)
- Berufstätige mit hohen Anforderungen an Wachheit
- Patienten mit Diabetes (Gewichtszunahme verschlechtert Blutzucker)
- Wenn Gewichtszunahme unbedingt vermieden werden muss
Quellen und weiterführende Informationen
Dieser Artikel basiert auf Fachinformationen, wissenschaftlichen Studien und klinischen Leitlinien. Für weitere Informationen konsultieren Sie bitte:
- Fachinformation Remeron (MSD)
- S3-Leitlinie zur Behandlung von Depressionen
- Pharmazeutische Zeitung - Mirtazapin
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie
- Cochrane Reviews - Mirtazapin für Depression
Stand der Informationen: Januar 2025