Was ist Lithium?
Lithium ist ein natürlich vorkommendes Element und gehört zu den ältesten und bewährtesten Psychopharmaka. Als Stimmungsstabilisierer wird es hauptsächlich zur Behandlung und Vorbeugung von bipolaren Störungen eingesetzt. Lithium gilt als Goldstandard in der Langzeitbehandlung und kann sowohl manische als auch depressive Episoden verhindern.
Der Wirkstoff wird in Form von Lithiumsalzen verabreicht, am häufigsten als Lithiumcarbonat oder Lithiumsulfat. In Deutschland ist Lithium unter verschiedenen Handelsnamen erhältlich, darunter Quilonum und Hypnorex.
Besonderheit von Lithium
Im Gegensatz zu vielen anderen Psychopharmaka ist Lithium kein synthetisch hergestelltes Molekül, sondern ein natürliches Element. Seine Wirkung bei psychischen Erkrankungen wurde bereits in den 1940er Jahren entdeckt, und es wird bis heute erfolgreich eingesetzt. Lithium verfügt über umfangreiche Langzeitstudien, die seine Wirksamkeit und Sicherheit bei richtiger Anwendung belegen.
Wie wirkt Lithium?
Die genaue Wirkweise von Lithium ist komplex und noch nicht vollständig verstanden. Man geht davon aus, dass Lithium an verschiedenen Stellen im Gehirn wirkt:
- Neurotransmitter-Systeme: Lithium beeinflusst verschiedene Botenstoffe im Gehirn, darunter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Es hilft, das Gleichgewicht dieser Neurotransmitter zu stabilisieren.
- Zelluläre Signalwege: Der Wirkstoff greift in intrazelluläre Signalkaskaden ein und beeinflusst dadurch die Funktion von Nervenzellen.
- Neuroprotektive Effekte: Lithium scheint Nervenzellen zu schützen und kann möglicherweise das Wachstum neuer Nervenzellen fördern.
- Entzündungshemmung: Es gibt Hinweise darauf, dass Lithium entzündliche Prozesse im Gehirn reduziert, die bei bipolaren Störungen eine Rolle spielen können.
Diese vielfältigen Wirkmechanismen tragen dazu bei, dass Lithium sowohl manische als auch depressive Phasen abmildern und deren Auftreten verhindern kann.
Anwendungsgebiete
Lithium wird hauptsächlich bei folgenden Erkrankungen eingesetzt:
Bipolare Störung (Hauptindikation)
Die bipolare Störung ist das Hauptanwendungsgebiet von Lithium. Der Wirkstoff wird sowohl zur Akutbehandlung als auch zur Langzeitprophylaxe eingesetzt:
- Akute Manie: Behandlung manischer Episoden mit übersteigerter Stimmung, Rastlosigkeit und vermindertem Schlafbedürfnis
- Prophylaxe: Verhinderung erneuter manischer und depressiver Episoden bei Bipolar-I- und Bipolar-II-Störungen
- Langzeitstabilisierung: Erhaltung einer stabilen Stimmungslage über Jahre hinweg
Therapieresistente Depression
Bei Depressionen, die auf Antidepressiva nicht ausreichend ansprechen, kann Lithium als Augmentationstherapie (Verstärkungstherapie) eingesetzt werden. In Kombination mit Antidepressiva kann es die Wirksamkeit deutlich erhöhen.
Weitere Anwendungen
- Schizoaffektive Störungen: Bei Erkrankungen mit Merkmalen von Schizophrenie und affektiven Störungen
- Suizidprophylaxe: Studien zeigen, dass Lithium das Suizidrisiko bei bipolaren Patienten deutlich senken kann
- Aggressive Verhaltensweisen: In manchen Fällen zur Reduktion impulsiver Aggressivität
Dosierung und Einnahme
Dosierung
Die Dosierung von Lithium ist hoch individuell und muss sorgfältig an den einzelnen Patienten angepasst werden. Die Therapie beginnt in der Regel mit einer niedrigen Dosis, die schrittweise erhöht wird:
- Startdosis: 300-600 mg pro Tag
- Zieldosis: 900-1800 mg pro Tag (aufgeteilt auf 2-3 Einzeldosen)
- Therapeutischer Bereich: Lithiumspiegel im Blut sollte zwischen 0,6 und 1,2 mmol/L liegen
🔴 Kritischer Hinweis: Enge therapeutische Breite
Lithium hat eine sehr enge therapeutische Breite. Das bedeutet, dass der Unterschied zwischen der wirksamen Dosis und einer toxischen Dosis gering ist. Deshalb sind regelmäßige Blutspiegelkontrollen absolut notwendig.
Toxische Werte beginnen ab 1,5 mmol/L. Werte über 2,0 mmol/L können lebensbedrohlich sein!
Einnahmehinweise
- Mit Mahlzeiten: Lithium sollte zu oder nach den Mahlzeiten eingenommen werden, um Magen-Darm-Beschwerden zu reduzieren
- Regelmäßigkeit: Nehmen Sie Lithium immer zur gleichen Tageszeit ein
- Nicht teilen: Retardtabletten dürfen nicht geteilt oder zerkaut werden
- Ausreichend trinken: Achten Sie auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr (2-3 Liter täglich)
- Salzkonsum: Halten Sie Ihren Salzkonsum konstant, da dies den Lithiumspiegel beeinflusst
Lithiumspiegel-Kontrollen
Die regelmäßige Kontrolle des Lithiumspiegels im Blut ist der wichtigste Aspekt der Lithiumtherapie. Diese Kontrollen sind notwendig, um:
- Die optimale Dosierung zu finden
- Toxizität zu vermeiden
- Die Wirksamkeit sicherzustellen
- Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen
Kontrollintervalle
| Phase der Behandlung | Kontrollintervall |
|---|---|
| Therapiebeginn / Dosisanpassung | Wöchentlich bis Zielspiegel erreicht |
| Nach Erreichen des Zielspiegels | Alle 2-4 Wochen für 3 Monate |
| Stabile Langzeittherapie | Alle 3-6 Monate |
| Bei Dosisänderungen | Nach 5-7 Tagen |
| Bei Nebenwirkungen oder Infekten | Sofort |
Weitere notwendige Kontrollen
Neben dem Lithiumspiegel müssen regelmäßig weitere Werte überwacht werden:
- Nierenfunktion: Kreatinin, eGFR (alle 6 Monate)
- Schilddrüsenwerte: TSH, T3, T4 (alle 6-12 Monate)
- Kalzium: Serumkalzium (jährlich)
- Elektrolyte: Natrium, Kalium (bei Bedarf)
- EKG: Vor Therapiebeginn und bei Bedarf
Nebenwirkungen
Lithium kann verschiedene Nebenwirkungen verursachen. Viele sind dosisabhängig und können durch Anpassung der Dosis gemildert werden.
Häufige Nebenwirkungen (dosisabhängig)
- Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Durchfall, Magenschmerzen (besonders zu Beginn)
- Tremor: Feinschlägiges Zittern der Hände (häufigste Nebenwirkung)
- Verstärkter Durst und häufiges Wasserlassen: Durch Beeinträchtigung der Nierenfunktion
- Gewichtszunahme: Bei 20-30% der Patienten
- Müdigkeit und Schwäche: Besonders zu Therapiebeginn
- Konzentrationsschwierigkeiten: "Nebel im Kopf"
- Akne oder Hautausschlag: Verschlechterung des Hautbildes
Langzeitnebenwirkungen
- Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose): Bei 20-30% der Patienten, gut behandelbar
- Nierenfunktionsstörungen: Kann die Konzentrationsfähigkeit der Niere beeinträchtigen
- Hyperparathyreoidismus: Erhöhung des Kalziumspiegels durch Nebenschilddrüsenstörung
- Gewichtszunahme: Durchschnittlich 4-6 kg über mehrere Jahre
Zeichen einer Lithiumintoxikation (Vergiftung)
🚨 Notfall: Symptome einer Lithiumvergiftung
Bei folgenden Symptomen sofort medizinische Hilfe suchen:
- Starkes Zittern (grobschlägiger Tremor)
- Starke Übelkeit, Erbrechen und Durchfall
- Verwirrtheit, Benommenheit
- Verwaschene Sprache
- Muskelzuckungen, Krampfanfälle
- Gleichgewichtsstörungen, Ataxie
- Bewusstseinsstörungen
Eine Lithiumintoxikation ist ein medizinischer Notfall! Rufen Sie sofort den Notarzt (112).
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
Lithium interagiert mit zahlreichen Medikamenten. Einige können den Lithiumspiegel erhöhen (Toxizitätsgefahr), andere können ihn senken (Wirkungsverlust).
Medikamente, die den Lithiumspiegel erhöhen (Vorsicht!)
- NSAR (Schmerzmittel): Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen – können Lithiumspiegel um 30-60% erhöhen
- ACE-Hemmer: Blutdruckmedikamente (Enalapril, Ramipril)
- Diuretika: Entwässerungstabletten, besonders Thiazide
- COX-2-Hemmer: Celecoxib, Etoricoxib
Medikamente, die den Lithiumspiegel senken
- Theophyllin: Bei Asthma/COPD
- Koffein: In hohen Dosen
- Osmotische Diuretika: Mannitol
Andere wichtige Wechselwirkungen
- Serotoninerge Antidepressiva: Erhöhtes Risiko für Serotonin-Syndrom in Kombination mit SSRI oder SNRI
- Neuroleptika: Erhöhtes Risiko für neurologische Nebenwirkungen mit Haloperidol oder anderen Antipsychotika
- Kalziumantagonisten: Verstärkung der Neurotoxizität
⚠️ Wichtig bei Schmerzmitteln
Paracetamol ist das Schmerzmittel der Wahl bei Lithiumtherapie. Es beeinflusst den Lithiumspiegel nicht. Vermeiden Sie wenn möglich Ibuprofen und andere NSAR. Wenn NSAR notwendig sind, sind engmaschige Lithiumspiegel-Kontrollen erforderlich.
Besondere Vorsichtsmaßnahmen
Flüssigkeits- und Salzhaushalt
Der Lithiumspiegel wird stark durch Veränderungen im Flüssigkeits- und Salzhaushalt beeinflusst:
- Dehydrierung: Schwitzen, Durchfall, Erbrechen oder unzureichende Flüssigkeitszufuhr können den Lithiumspiegel gefährlich erhöhen
- Salzarme Diät: Kann den Lithiumspiegel erhöhen, da Natrium und Lithium ähnlich vom Körper verarbeitet werden
- Sport und Hitze: Bei starkem Schwitzen Flüssigkeitsverlust ausgleichen und ggf. Lithiumspiegel kontrollieren lassen
Erkrankungen und Infekte
- Fieber und Infektionen: Können den Lithiumspiegel verändern – bei hohem Fieber sollte der Lithiumspiegel kontrolliert werden
- Magen-Darm-Infekte: Bei Durchfall und Erbrechen kann der Lithiumspiegel steigen – informieren Sie Ihren Arzt
- Nierenerkrankungen: Erfordern besondere Vorsicht und engmaschige Kontrollen
Schwangerschaft und Stillzeit
Lithium ist in Schwangerschaft und Stillzeit problematisch:
- Schwangerschaft: Erhöhtes Risiko für Herzfehlbildungen beim Kind (Ebstein-Anomalie), besonders im ersten Trimester. Lithium sollte in der Schwangerschaft nur eingesetzt werden, wenn absolut notwendig und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung
- Stillzeit: Lithium geht in die Muttermilch über. Stillen wird unter Lithiumtherapie nicht empfohlen
- Familienplanung: Besprechen Sie eine geplante Schwangerschaft frühzeitig mit Ihrem Arzt, um Alternativen zu erwägen
Operationen und Narkosen
Vor geplanten Operationen sollten Sie das medizinische Personal über Ihre Lithiumtherapie informieren. In manchen Fällen wird Lithium einige Tage vor der Operation pausiert.
Wirkungseintritt und Behandlungsdauer
Wirkungseintritt
- Akute Manie: Erste Wirkung nach 5-7 Tagen, volle Wirkung nach 1-3 Wochen
- Prophylaxe: Die vorbeugende Wirkung entfaltet sich über mehrere Wochen bis Monate
- Depression (Augmentation): Zusätzliche antidepressive Wirkung nach 2-4 Wochen
Behandlungsdauer
Lithium ist ein Medikament für die Langzeittherapie:
- Mindestdauer: Nach der ersten bipolaren Episode mindestens 2 Jahre
- Empfohlen: Bei mehreren Episoden 5 Jahre oder länger
- Oft lebenslang: Bei schweren oder häufigen Episoden kann eine lebenslange Therapie notwendig sein
Die Entscheidung über die Therapiedauer sollte gemeinsam mit dem Arzt getroffen werden, basierend auf dem individuellen Krankheitsverlauf.
Absetzen von Lithium
⚠️ Niemals abrupt absetzen!
Das plötzliche Absetzen von Lithium ist gefährlich und kann zu schweren Rückfällen führen. Studien zeigen, dass nach abruptem Absetzen das Rückfallrisiko für manische Episoden in den ersten Wochen extrem hoch ist – oft höher als vor Beginn der Therapie.
Richtiges Ausschleichen
Wenn eine Beendigung der Lithiumtherapie geplant ist, muss dies sehr langsam erfolgen:
- Schrittweise Reduktion: Dosis über mindestens 4 Wochen, besser 2-3 Monate reduzieren
- Engmaschige Kontrolle: Während des Ausschleichens regelmäßige ärztliche Kontrollen
- Früherkennung: Achten Sie auf erste Anzeichen einer erneuten Episode
- Alternativplan: Ggf. Umstellung auf andere Stimmungsstabilisierer wie Lamotrigin oder Valproat
Vergleich mit anderen Stimmungsstabilisierern
Neben Lithium gibt es weitere Medikamente zur Behandlung bipolarer Störungen:
| Medikament | Vorteile | Nachteile |
|---|---|---|
| Lithium | Beste Evidenz, Suizidprävention, günstig | Engmaschige Kontrollen, Nieren-/Schilddrüsenfunktion |
| Valproat | Schneller wirksam bei Manie, weniger Kontrollen | Teratogen (Fehlbildungen), Gewichtszunahme |
| Lamotrigin | Gut bei Depression, wenig Gewichtszunahme | Langsame Aufdosierung, Hautreaktionen möglich |
| Carbamazepin | Alternative bei Lithium-Unverträglichkeit | Viele Wechselwirkungen, Blutbildkontrollen |
Praktische Tipps für die Lithiumtherapie
💡 Erfolgreiche Lithiumtherapie
- Therapietreue: Nehmen Sie Lithium regelmäßig ein, auch wenn Sie sich gut fühlen
- Tagebuch führen: Dokumentieren Sie Stimmung, Nebenwirkungen und Besonderheiten
- Medikamentenpass: Tragen Sie einen Pass mit Ihren Lithiumwerten bei sich
- Notfallplan: Haben Sie einen Plan für Krisensituationen
- Aufklärung: Informieren Sie Angehörige über Warnzeichen und Notfallmaßnahmen
- Arzttermine: Halten Sie alle Kontrolltermine ein – sie sind essenziell
- Blutabnahme-Timing: 12 Stunden nach der letzten Einnahme für korrekte Spiegelwerte
- Reisen: Nehmen Sie ausreichend Medikamente mit und informieren Sie sich über medizinische Versorgung am Urlaubsort
Häufige Fragen zu Lithium
Macht Lithium abhängig?
Nein, Lithium macht nicht abhängig. Es besteht kein Suchtpotenzial oder Verlangen nach dem Medikament. Die Notwendigkeit einer Langzeiteinnahme ergibt sich aus der Erkrankung, nicht aus einer Abhängigkeit.
Kann ich unter Lithium Auto fahren?
Zu Beginn der Therapie und bei Dosisanpassungen kann die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigt sein. Bei stabiler Einstellung und guter Verträglichkeit ist Autofahren in der Regel möglich. Besprechen Sie dies mit Ihrem Arzt.
Darf ich Alkohol trinken?
Alkohol sollte unter Lithiumtherapie möglichst vermieden werden. Alkohol kann die Nebenwirkungen verstärken und den Therapieerfolg gefährden. Bei bipolaren Störungen ist generell Vorsicht mit Alkohol geboten, da er Episoden auslösen kann.
Was passiert bei vergessener Einnahme?
Wenn Sie eine Dosis vergessen haben, nehmen Sie diese nach, sobald Sie es bemerken – es sei denn, die nächste Dosis steht kurz bevor. Nehmen Sie niemals die doppelte Dosis ein. Bei häufigem Vergessen sprechen Sie mit Ihrem Arzt über eine Vereinfachung des Einnahmeschemas.
Wie schnell wirkt Lithium bei Depressionen?
Als Augmentation bei Depressionen zusätzlich zu einem Antidepressivum kann sich eine Wirkung nach 2-4 Wochen zeigen. Manchmal tritt eine Besserung auch schneller ein.
Zusammenfassung
Lithium ist ein hochwirksamer Stimmungsstabilisierer mit einer über 70-jährigen Erfolgsgeschichte in der Behandlung bipolarer Störungen. Trotz der notwendigen engmaschigen Kontrollen und potenzieller Nebenwirkungen ist es für viele Patienten die beste Option für ein stabiles Leben.
Die wichtigsten Punkte:
- Goldstandard bei bipolaren Störungen
- Enge therapeutische Breite – regelmäßige Blutspiegelkontrollen unerlässlich
- Gute Langzeitwirksamkeit bei richtiger Anwendung
- Suizidpräventive Wirkung
- Vorsicht bei Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
- Niemals abrupt absetzen
- Engmaschige ärztliche Betreuung notwendig
Eine erfolgreiche Lithiumtherapie erfordert eine gute Zusammenarbeit zwischen Patient, Arzt und oft auch Angehörigen. Mit der richtigen Überwachung und Therapietreue kann Lithium jedoch ein Leben mit deutlich weniger oder ohne schwere Episoden ermöglichen.